Technische Sammlungen que(e)rlesen

Andrea Berger, Sophie Gerber & Martina Griesser-Stermscheg

Museumsdatenbanken sind mächtige Instrumente der Wissens- und kollektiven Gedächtnisverwaltung. Museen kategorisieren, hierarchisieren und disziplinieren ihre Sammlungsbestände. Gefäße für Sammlungen schaffen Ordnung und Begrenzung zugleich. Dabei begrenzt die Dinglichkeit (Material, Dimension und Zustand) von Sammlungen. Objekte sind widerständig, sie vermögen uns in ihrer dinglichen Beschaffenheit und als immer neu befragbare Quellen seit Jahrhunderten an die Begrenztheit theoretischer, zeitgebundener Ordnungssysteme zu erinnern. Das ist ein wertvolles Alleinstellungsmerkmal von musealen Sammlungen und Archiven.

Digitale Museumsdatenbanken kennen diese Grenzen nicht. Sie sind dynamisch, sie vereinheitlichen, strukturieren, nivellieren und löschen nach vorgegebenen Parametern. Und das alles in Echtzeit. Sie geben aber auch definierte Felder vor, die wir als Museumsmitarbeiter_innen zu befüllen haben, oder markieren Sperrfelder, die deutlich machen, dass nur eine bestimmte Personengruppe zu ihrer Befüllung befugt, kein alternatives Wissen und nur eine exklusive Möglichkeit zur Wissensabfrage erwünscht ist. In Datenbanken gibt es keine Anmerkungen mit Bleistift, die eine Verunsicherung im Ewigkeitsanspruch einer bestimmten Information anzeigt. Es gibt auch kein einfaches Durchstreichen, das die darunterliegende Information oder eine (historische) Irrung immer noch lesbar macht. Das unterscheidet Museumsdatenbanken des 21. Jahrhunderts wesentlich von ihren historischen Vorläufern wie Schubladen, Zettelkästen, Inventarbüchern, Zettelkatalogen oder Karteikarten. Die vielfach angestrebte, konsequente “Datenbereinigung” sieht keine Unsicherheiten im Schaffen und Dokumentieren von Wissen mehr vor, zumindest keine öffentlich sichtbaren wie z.B. früher auf Karteikarten in Bibliotheken oder Inventarkarteien, deren abgerundete, vergilbte Ecken das konzentrierte Blättern mehrerer Generationen von Studierenden dokumentierten. Heute rutschen wissenschaftliche Zögerlichkeiten meist in das Freitext-Feld der “internen Bemerkungen”, einem für Externe unsichtbaren Sperrfeld also.

Und dann ist da noch die Sache mit “Open Data”: Trotz der aktuellen Maximen von Zugänglichkeit und Transparenz der institutionellen Wissensverwaltung beinhaltet jede online-Veröffentlichung einer Datenbank eine Vielzahl von Sperrungen, die aber meist nicht offengelegt werden. User_innen wissen also nicht, was alles nicht zu sehen ist. Hier besteht eine Analogie zum erlernten Verhältnis von Ausstellung zu Depot. Die meisten Besucher_innen von Museen wissen nicht, was sie alles nicht sehen. In online-Datenbanken sind Datenschutz-eschränkungen oft der Grund für Sperrungen, aber manchmal sind es auch sensible oder unbequeme Informationen, die der Öffentlichkeit von der Institution bewusst vorenthalten werden und damit eine Anreicherung mit bisher unbeachtetem Wissen oder gar das Auffinden für neue, möglicherweise unbequeme Kontexte verunmöglichen.

In vielen Museen ersetzen Datensätze mittlerweile oft die Sammlungsobjekte, die in dezentralen “Zentraldepots” eingelagert und physisch schwer zugänglich sind. In vielen  Museen ersetzt also das Dokumentationssystem Datenbank mitunter den eigentlichen Gegenstand. Die abgelegten Datenmengen sind mittlerweile so angewachsen, dass eine stringente Redaktion der Datenbank schier unmöglich ist. Laufende Kontrollen oder Korrekturen können nur in Stichproben erfolgen oder werden punktuell durch gezielte Anfragen von außen, beispielsweise durch Leihanfragen für Ausstellungen oder durch Forschungsprojekte, angeregt. Aus diesen und anderen Gründen, die sich aus der Museumspraxis ergeben, scheint ein breit angesetzter, kritischer Umgang mit Datenbanken und digitalen Sammlungsmanagementsystemen angebracht.

Da in den meisten Sammlungen der Erschließungsgrad weitab von Vollständigkeit liegt (denn die Eingabe von Daten ist eine heiß umstrittene Frage von Personalressourcen), nimmt die Beschlagwortung in Sammlungen und Archiven eine zentrale Rolle ein. Schlagwörter sind oft die einzigen Findmittel, die zum gewünschten oder gesuchten Ergebnis führen, beispielsweise zur sinnvollen Entwicklung einer kuratorischen Erzählung, also des roten Fadens, der uns durch eine Sammlungsausstellung führt.  Die Vergabe von Schlagwörtern obliegt grundsätzlich dem wissenschaftlichen Personal in Museen, obwohl bereits Ansätze zur partizipativen Beschlagwortung in kleineren Projekten erprobt werden (sh. Beispiele weiter unten). Das Recht zur Vergabe von Schlagworten spiegelt das längst überholte, mancherorts aber leider immer noch vorhandene Festhalten an der institutionellen, wissenschaftlichen Deutungshoheit Wissen und Sprache verändert sich laufend und damit auch die Bedeutung – genauer gesagt die jeweilige Bedeutungsaufladung, von Objekten, Archivalien und Begriffen. Der Schlagwort- und Thesaurus-Katalog des Technischen Museums Wien umfasst derzeit etwa 35.000 Begriffe. Bei genauer Betrachtung ist der stetig wachsende Katalog, eng angelehnt an internationale Normdatenbanken wie GND oder Icon-Class, von heteronormativen oder auch eurozentristischen, mitunter auch rassistischen Denkmustern und Strukturen geprägt (Hacke, 2021).  Im Technischen Museum Wien versuchen die sammelnden und dokumentierenden Mitarbeiter_innen nun dieser Diagnose in kleinen Schritten am Beispiel gendersensibler und rassismuskritischer Sprache entgegen zu wirken.

Bereichsübergreifende Verschlagwortung: Gender & Dekolonisierung

Wie ist ein dynamisches Dokumentieren einer Sammlung möglich und wer kann dazu beitragen?  Um eine Antwort zu finden, wurde 2019 begonnen, unter dem Titel “Fokus Gender” an einem Schlagwortangebot zu Gender und Geschlecht für alle Sammlungsbereiche des TMW zu arbeiten. Die Basis bildeten Begriffe aus dem museumseigenen Thesaurus sowie eine Recherche in genderrelevanten Thesauri.[1] Weitere Schlagworte sind das Ergebnis der Arbeit mit den Objekten durch die Kustod_innen und in Workshops mit Studierenden (s.u.). Das Begriffsangebot zielt weder auf lexikalische Vollständigkeit noch auf dauerhafte Gültigkeit ab. Vielmehr setzt es sich aus Begriffen zusammen, die helfen, Sichtbarkeiten zu schaffen und nicht nur Kolleg_innen, sondern auch der Öffentlichkeit die Auffindbarkeit von Objekten in der Sammlung zu erleichtern. Die Kustod_innen des TMW nutzen dieses Begriffsangebot für die erweiterte Erschließung und Neusichtung der Schausammlung, die Anlass bieten, Gewissheiten zu hinterfragen, Gelerntes zu verlernen und que(e)r zu denken.

Um Geschlechtervielfalt sichtbar zu machen, wurden in einem weiteren Schritt vier Optionen für die Geschlechtsauswahl bei Personendatensätzen (divers, weiblich, männlich, unbekannt) und der Unterstrich für Personen- und Berufsbezeichnungen eingeführt. Ausgehend von dieser Neuerung wurde eine Leitlinie für genderinformierte Sprache für die gesamte Institution angelegt und implementiert.

Im Jahr 2020 wurden Begriffsangebote zu drei weiteren bereichsübergreifenden Themengebieten erarbeitet: Sensible Sammlungsbestände, Museumsgeschichte sowie Umweltaktivismus. Im Zuge des vom BMKOES geförderten Projekts “Koloniale Objekte in österreichischen Bundesmuseen” wird derzeit an einem rassismuskritischen Begriffsangebot gearbeitet, das sowohl auf Sammlungsbestände aus kolonialen Kontexten als auch auf Objekte abzielt, die durch Logos, Abbildungen, Beschriftungen usw. Rassismen reproduzieren.

Wie bei allen in und durch Museen kommunizierten Inhalten drängt sich auch bei der Beschlagwortung in Datenbanken die Frage auf, welches und wessen Wissen von wem, wann und wie dokumentiert wird. In der Praxis werden Schlagwörter häufig von nur einer für den jeweiligen Sammlungsbereich und somit für das jeweilige Objekt zuständigen Person vergeben. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, wurde die Beschlagwortung für alle wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen freigegeben und die Kolleg_innen wurden aktiv dazu aufgefordert, sich zu beteiligen. Eine Evaluierung nach einem Jahr ergab, dass nicht alle, aber doch einige Kolleg_innen immer wieder davon Gebrauch gemacht hatten und machen.

Gemeinsam und dynamisch Verschlagworten

Auch Versuche, das Wissen von externen Personen(gruppen) mit einzubeziehen, wurden unternommen, zum Beispiel in der kleinen Dauerausstellung “Wem gehört PINK?”, die sich diversen Aspekten der polarisierenden Farbe widmet. Nach einer Einführung wurde eine Gruppe von Studierenden dazu aufgefordert, Haftnotizen mit Schlagwörtern direkt auf die Vitrinen der jeweiligen Objekte zu kleben. Diese Aufgabe wurde von den Teilnehmenden mit viel Elan angenommen und förderte die aktive Auseinandersetzung mit den gezeigten Objekten. Die Ergebnisse fielen entsprechend umfangreich aus und führten zu einer spannenden Diskussion rund um die teils widersprüchlichen vergebenen Schlagwörter. Neben diesen positiven Elementen muss jedoch auch auf drei Problemfelder hingewiesen werden, die sich im Rahmen des partizipativen Experiments ergaben: Erstens stellte sich vor allem die Beschreibung von Gefühlen und komplexen gesellschaftlichen Vorgängen in nur einem Wort als Herausforderung für die Studierenden dar, sodass sie zu Wortkombinationen oder kurzen Sätze tendierten, wie es beispielsweise bei Hashtags in sozialen Medien häufig der Fall ist. Solche Wortkombinationen konnten leider nicht in die Datenbank aufgenommen werden, da diese der Logik des Thesaurus widersprechen. Zweitens zeigte sich bereits bei diesem einstündigen Experiment, dass die Nachbereitung und Dokumentation mit vergleichsweise großem Aufwand verbunden sind. Die Auswertung der Ergebnisse und die Übertragung der handschriftlichen Notizen in die Datenbank nimmt leider deutlich mehr Zeit in Anspruch als die gemeinsame Diskussion in der Schausammlung. Drittens müssen – wie bereits beschrieben – auch die Ergebnisse von partizipativen Projekten schlussendlich von Museumsmitarbeiter_innen ausgewählt und selektiv dokumentiert werden. Welche Vorschläge es schlussendlich in die Datenbank schaffen, hängt somit wiederum von technischen Vorgaben, vor allem aber wiederum von Gewohnheiten und persönlichen Ansichten von einigen wenigen Personen ab.
Ein weiteres Problem bei der Beschlagwortung stellt der Umstand dar, dass nicht nachvollziehbar ist, wann einem Objekt ein bestimmtes Schlagwort zugeordnet wurde. Zwar lässt sich nachvollziehen, wann ein Begriff erstmalig vergeben wurde, jedoch lassen sich keine Rückschlüsse über die zeitliche Verteilung ziehen, was besonders für Bereiche wie die gendersensible Sammlungsarbeit spannende Möglichkeiten eröffnen würde. Ähnlich verhält es sich mit Angaben zur Autor_innenschaft von Schlagworten: Es kann nachvollzogen werden, wer den Begriff zum ersten Mal in die Datenbank eingegeben hat, jedoch bleibt offen, wer ihn in weiterer Folge verwendete, wie oft einzelne Personen bestimmte Wörter vergaben usw.

Die queere Datenbank. Eine Wunschvorstellung

Unsere Wunschdatenbank ist transparent, Nutzer_innen können die Autor_innen und den Zeitpunkt der Vergabe der Schlagworte nachvollziehen. Sie erkennt an, dass Sprache dynamisch ist und bildet daher die Historie der Begriffsvergaben ab, sodass auch die Genese und Geschichte der Begrifflichkeiten transparent ist. Die Datenbank ist partizipativ, denn Schlagworte können über die Online-Datenbank und Screens in der Ausstellung unmittelbar vergeben werden. Die Redaktion des Thesaurus ist divers besetzt und Systemadministrator_innen sind mit inhaltlichen Kompetenzen ausgestattet. Feedback und Tipps von Nutzer_innen der Online-Datenbank werden z.B. mit Freikarten belohnt. Wir wünschen uns mehr Ressourcen für die Datenbankarbeit, um Objekte ausgiebig bearbeiten zu können. Dies betrifft vor allem jene Datensätze, die für Objekte angelegt werden, die bei der Depotinventur gefunden werden und dadurch häufig mit intensiven Recherchen verbunden sind. Neben den entsprechenden Ressourcen wünschen wir uns Hilfestellungen für die Mitarbeiter_innen, z.B. in Form von regelmäßigen Treffen, bei denen offen über Problemstellungen diskutiert werden kann. Darüber hinaus wären (automatisierte) Kontrollmechanismen, z.B. Pflichtfelder und Erinnerungsmails bei noch offenen Feldern, wünschenswert.

Eine Abkehr vom Prinzip der Sprache hin zu anderen Parametern, die länger stabil bleiben, würde sowohl die Dateneingabe als auch die Suche deutlich vereinfachen – z.B. Geo-Koordinaten, die in weiterer Folge automatisch mit allen damit in Verbindung stehenden Begriffen (historischer und aktueller Ortsname, Region, Herrschaftsgebiet, Land, Nationalstaat etc.) verlinkt werden.

Auch wenn die Verwendung von künstlicher Intelligenz zur Verschlagwortung zurzeit keine zufriedenstellende Alternative darstellt, da auch solche Systeme auf von Menschen erzeugten Daten aufbauen und dadurch Vorurteile wie Sexismen und Rassismen übernehmen, wäre es durchaus denkbar, dass Schlagwörter zur Auswahl vorgeschlagen werden.[2] Dass der Computer im Gegensatz zu Wissenschaftler_innen über keine professionelle, spezialisierte Ausbildung verfügt und demnach mehr den Zugang eines_einer Lai_in als eines_einer Expert_in reflektiert, kann dazu beitragen, Sammlungen niederschwelliger zugänglich zu machen.

Abbildungen

Abb. 1: Kombination aus Trix Metallbaukasten 1C (Inv. Nr. 34710) und Werbetafel Nähmaschine Rast & Gasse (Inv. Nr. 35865)

Abb. 2: Adaption des Metallbaukasten „Der kleine Ingenieur“ (Inv. Nr. 38788)

Referenzen

Hacke, Hannes (2021). Schlagwörter, Normdaten, Tags –  Sexualität in Sammlungsdatenbanken, Vortrag im Rahmen der Online-Tagung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden “Sexualitäten sammeln”, 24. und 25. Februar 2021.


[1] vgl. u.a. ThesaurA. Österreichischer Frauenthesaurus, erstellt v. Helga Klösch-Melliwa  u. Angelika Zach, 1996; FrauenMediaThesaurus, URL: https://frauenmediaturm.de/feministisches-archiv/feministischer-thesaurus/.

[2] Beispielsweise sammeln die Harvard Art Museums künstlich generierte Schlagwörter, Kategorisierungen und Beschreibungen zu ihren Kunstwerken – ergänzend zu den Einträgen von Kunsthistoriker_innen: https://ai.harvardartmuseums.org/.

 

Andrea Berger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Technischen Museum Wien und beschäftigt sich mit diversen Diskriminierungsformen und Unrechtskontexten im Museumsbereich. Die Kommunikationswissenschaftlerin und Zeithistorikerin arbeitet derzeit als Teil des Kurator_innen-Teams an zwei neuen Bereichen der Dauerausstellung und beschäftigt sich im Rahmen des vom BMKOES geförderten Projekts „Koloniale Objekte an österreichischen Bundesmuseen“ mit Rezeptionsobjekten. 

Sophie Gerber ist Technikhistorikerin und Kustodin für Haushaltstechnik, Nahrungs- und Genussmittel am Technischen Museum Wien. Darüber hinaus arbeitet sie an Strategien für genderinformiertes Sammeln, Ausstellen, Vermitteln und Forschen in Technik- und Wissenschaftsmuseen. Ihre Forschungsinteressen umfassen Gender und Queer Studies, materielle Kultur und die Verbindung von Technik-, Konsum- und Alltagsgeschichte.  

Martina Griesser-Stermscheg ist Museologin, Leiterin des Forschungsinstitutes am Technischen Museum Wien, Lehrende an der Universität für angewandte Kunst Wien und Teil von schnittpunkt (www.schnitt.org). Gemeinsam mit ihren Kolleginnen arbeitet sie stets an der Frage, wie die kritische Museumstheorie in der institutionellen Museumspraxis Folgen haben kann.